Für einmal muss die Mitteilung zu den Kantatenkonzerten im November sehr persönlich ausfallen. Denn die beiden Werke BWV 199 «Mein Herze schwimmt im Blut» und BWV 106 «Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit» (Actus tragicus) haben beim unterzeichnenden Stiftungspräsidenten und bei allen Mitbetroffenen tiefe Narben hinterlassen, bevor sie nun in unserer Reihe überhaupt zur Aufführung gelangen können.
Die Kantate «Mein Herze schwimmt im Blut» hätte am 17. August 2012 in Trogen erklingen sollen. Am Vorabend zum Konzert ereignete sich ein schlimmer Unfall, bei dem unser hoch geschätzter, lieber Organist Norbert Zeilberger zu Tode stürzte und am anderen Morgen buchstäblich in seinem Blut auf dem Landsgemeindeplatz entdeckt wurde. Anstelle einer Kantate hielten wir eine Gedenkstunde in der Kirche ab. Ans Musizieren war nicht zu denken. Das tief deprimierende Ereignis fiel für mich persönlich in eine Zeit grösster Anfechtungen, die eine Fortsetzung der Stiftungsarbeit eine Weile lang fraglich erscheinen liess. Das Buch Hiob wurde zu meiner Hauptlektüre.
«Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit» hätte am Freitag, 20. März 2020 in Speicher aufgeführt werden sollen. Corona schlug sämtliche Türen zu; jener schwarze Freitag war der Auftakt für ein einjähriges Sabbatical für unsere Aktivitäten, dessen Ausgang damals noch völlig offen erschien. Die Reflexion zur Kantate hätte unser lieber Kollege im Stiftungsrat der Internationalen J. S. Bach-Stiftung halten wollen, Prof. Dr. Ekkehart Reinelt aus München. Es war sein langjähriger Herzenswunsch gewesen, das tun zu können, zu genau dieser Kantate. In der Zwischenzeit ist er so gebrechlich geworden, dass das nicht mehr möglich ist.
Bei einem über zwanzig Jahre dauernden Projekt muss man mit tiefen Einschnitten rechnen, ich weiss. Ja, ob man jemals damit fertig wird, war zu Beginn und ist auch heute noch völlig ungewiss. Viele Entwicklungen übersteigen unsere Vorstellungskraft, auch und gerade, wenn man an die jüngsten Ereignisse in der Welt denkt. Vermutlich ist ein genügendes Mass an Demut der richtige Ansatz, um Unabänderliches hinzunehmen und sich am Gelingenden zu freuen.
Tun wir das! Freuen wir uns, dass die Aufführungen von BWV 199 und BWV 106 nun nach menschlichem Ermessen doch noch stattfinden werden. Die beiden Kantaten, spärlich besetzt, gehören zu den ganz grossen Kompositionen Bachs. Er schuf sie in jungen Jahren, worüber man nur staunen kann. Packendere Musik ist für mich kaum vorstellbar.
Für die Solokantate «Mein Herze schwimmt im Blut» konnte als Reflexionistin die frühere Starsopranistin Emma Kirkby gewonnen werden. Mit Julia Doyle ist die Solopartie gewiss adäquat besetzt. Beim Actus tragicus wird die Reflexion von Frau Luise Reddemann, Psychoanalytikerin und Fachärztin für Psychiatrie, gehalten. Zufall oder Fügung wollen es, dass auch sie schon einmal einen Auftritt bei uns gehabt hätte, nämlich Im Jahr 2021 zur Kantate «Wer weiss, wie nahe mir mein Ende». Da war Corona noch stets zugange, und sie konnte nicht zu uns kommen. Habent sua fata cantates, ist man versucht zu sagen: Die Kantaten haben ihre Schicksale.
Was geschah mit der Reflexion von Ekkehart Reinelt zu «Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit»? Wir wollten sie nicht einfach verschwinden lassen. Vielmehr baten wir Ekko, wie wir unseren Freund nennen, seine Gedanken zum Actus tragicus einem Filmteam in München vorzutragen, und wir liessen es mit den Aufnahmen des Orgelabends von Rudolf Lutz zur Kantate BWV 106 aus der Coronazeit zu einem Feature verschmelzen. Der Film, ein berührendes Zeugnis einer sehr reifen Persönlichkeit, ist als Bonusmaterial zum Werk BWV 106 auf bachipedia.org zu sehen. Die ideale Vorbereitung für das Konzert am Freitag, 24. November 2023 in Speicher!