Als ich die Anfrage der J. S. Bach-Stiftung bekam, mit ihnen die Solokantate BWV 210 «O holder Tag, erwünschte Zeit» aufzunehmen, habe ich mich gefreut, was für eine Ehre!
Ich hatte dieses Stück noch nicht gesungen zu diesem Zeitpunkt. Und als ich dann einige Monate vor der geplanten Aufführung die Kantate aus dem Notenregal zog, mich damit ans Cembalo setzte und Seite um Seite umblätterte, wurde mir immer mehr bewusst, worauf ich mich da eingelassen hatte. Die Rezitative und auch die Arien hörten gar nicht mehr auf, die Vorzeichen überboten sich bis hin zu Doppelkreuzen, den Text verstand ich schon gar nicht beim ersten Lesen, hoch hinauf bis zum cis’’’ und runter bis zum cis’ lässt Bach die Sopranstimme ihre Kapriolen schlagen, unfassbar lange Phrasen, ohne die Möglichkeit zu atmen. Das erste Rezitativ und die erste Arie fangen harmlos an, aber schon im Teil B von «Spielet, ihr beseelten Lieder» wird es extrem hoch und schnell und die Rezitative verlangen krasseste Wechsel von Tonhöhe und Ausdruck.
Aber ich wollte mich dieser Herausforderung unbedingt annehmen und die Kantate ins Repertoire aufnehmen! Note für Note arbeitete ich mich durch die kruden Rezitative und erschloss mir den Inhalt der Worte, legte für mich zurecht, worum es ging und was das für mich bedeuten konnte. Eine witzige Episode will ich erzählen: Als ich zu Hause gerade «Schweigt, ihr Flöten» übte, zog mein kleiner Sohn aus einer Schublade eine Blockflöte und stolzierte darauf herumtrötend durchs Zimmer …
Zwei Wochen vor Aufführung und Aufnahme habe ich die Rezitative auswendig gelernt. Eine Woche vorher schickte Rudolf Lutz die Verzierungsvorschläge für ebendiese vom Cembalisten Thomas Leininger und die Arbeit begann von Neuem.
Aber als ich dann in Rorschach auf die Dreamteam-Kollegen und Kolleginnen der J. S. Bach-Stiftung stiess und wir zusammen probten und musizierten, konnte ich mich entspannen und mich ins musikalische Sprungtuch des Ensembles fallen lassen, welches meine Stimme auf ihren Instrumenten auf Händen trugen. So musikalisch nach Hause zu kommen, passiert nicht jeden Tag in meinem Musikerleben. Ich bin dankbar und sehr glücklich, diese wahnwitzige Kantate mit solch einem fantastischen Ensemble eingespielt zu haben und das mit dem Tonmeister Stefan Ritzenthaler an unserer Seite, der mit seinem Bach-Ohr uns durch die knappe Aufnahme-Zeit lotste. Und schon jetzt freue ich mich drauf, sie bald wieder aufzuführen!
Das Konzert zur Bach-Kantate BWV 210 «O holder Tag, erwünschte Zeit» fand am 23. Juni 2023 im Würth Haus Rorschach (SG) statt. Die Konzertaufnahme ist in voller Länge auf www.bachipedia.org zu hören.